Twin Peaks: Die Rückkehr der surrealen Fernsehsaga
Als am 3. September 2017 die dritte Staffel der Serie Mystery-Serie Twin Peaks mit der 18. Folge ihr Ende nahm, fand auch das Gesamtwerk von David Lynch, dem vielleicht letzten großen Surrealisten unserer Zeit, seinen vorläufigen Schlusspunkt. Zusammen mit Mark Frost schuf Lynch eine Serie, die sowohl Maßstab und Inspiration für andere große Fernsehserien, als auch ein bizarrer Spiegel der aktuellen TV- und Filmlandschaft war. Grund genug Twin Peaks genauer unter die Lupe zu nehmen und zu versuchen, den rätselhaften Meilenstein der Fernsehgeschichte ein wenig verständlicher erscheinen zu lassen.
Warnung: Es wurde versucht ausschließlich weiche Spoiler zu verwenden, sodass alle drei Staffeln ungetrübt geschaut werden können. Dennoch werden einige Details im Folgenden offenbart, um die Serie näherzubringen.

Verloren in den geheimnisvollen Wäldern von Twin Peaks
In den späten 80er und frühen 90er Jahren versammelten sich zahlreiche Menschen vor den Fernsehgeräten, aßen Kirschkuchen und tranken schwarzen Kaffee, um gemeinsam eine Serie zu schauen. Die Rede ist natürlich von Twin Peaks, eine Serie, die ihren Zuschauern viele Rätsel aufgab. Wer ermordete Laura Palmer (Sheryl Lee), die Ballkönigin der Highschool in Twin Peaks? Was hat es mit dem Riesen und dem weißen Pferd auf sich? Was wird aus dem beliebten Special Agent Cooper (Kyle MacLachlan), der Lauras Mordfall untersucht? Und die womöglich wichtigste Frage: Wie geht es weiter? Denn schloss die Serie bei jeder Staffel scheinbar mit einem vorläufig offenem Ende – einem Cliffhanger. Wie Schöpfer und filmischer Surrealist David Lynch verlauten ließ, ist eine vierte Staffel vorstellbar, bräuchte aber mindestens bis zum Jahr 2021. Bis dahin ist die Suche nach dem Schlüssel für die Deutung von Twin Peaks eröffnet.
Die Essenz einer Mystery-Serie
Als eine der Serien, die den Mystery-Boom in den 90er Jahren maßgeblich ausgelöst hat, scheint Twin Peaks auch im 21. Jahrhundert dem Leitsatz treu zu bleiben: Mysteriös ist nur das Unbekannte. Oder wie David Lynch es selbst ausgedrückt hat: “There’s always fear of the unknown where there’s mystery.” In dem Sinne verhält es sich bei Twin Peaks ein wenig wie bei einem Vorhang. Vor ihm stehend drängt sich auf, dahinter zu gucken, um zu erfahren was sich dort verbirgt. Hinter den Vorhang geblickt, verliert das Mysterium seinen Reiz und verlangt nach neuen Fragen, Rätseln und Geheimnissen, damit erneut eine mysteriöse Stimmung entstehen kann. Somit ist es wahrscheinlich, dass sich in einer Mystery-Serie hinter dem Vorhang ein weiterer befindet und noch einer und so weiter. Wie in dem sogenannten “Red Room”, dem traumartigen Zimmer mit dem schwarz-weiß gezackten Fußboden und den roten Vorhängen – eines der Markenzeichen von Twin Peaks.

Mehr Deutungsansätze als in Game of Thrones
Nach Ende der zweiten Staffel von Twin Peaks mit seinem bitterbösen Ende, das zahlreiche Zuschauer verstört zurückließ, folgten anderen Fernsehserien. Mulder und Scully gingen in Akte X auf Ufo-Jagd, die Überlebenden des Flugzeugabsturzes bei Lost waren auf einer mysteriösen Insel gefangen und in Game of Thrones bekriegten sich die adeligen Familienhäuser der auf dem Fantasy-Kontinent Westeros. Während sich viele Menschen vor den Bildschirmen fragten, was mit Mulders Schwester passiert war, ob es Jack und die anderen je von der Insel schaffen würden oder wer letztlich den Thron der Sieben-Königslande besteigt, ruhte bei Twin Peaks ein ganzer Reigen an Rätseln für mehr als 25 Jahre. Eine treue Schar an Fans hatte nie wirklich aufgehört nach Antworten auf die offenen Fragen zu suchen und dabei drängten sich viele plausible Interpretationen auf. So viele, dass es kaum möglich erscheint, die richtige und endgültige Antwort zu finden. Wo andere Serien Lösungen anbieten, bewahren Lynch und Frost immer mindestens ein Mysterium und bedienen damit das Genre der Mystery-Serie auf einzigartige Weise.

Das ungewöhnliche Schöpfer-Duo von Twin Peaks
David Lynch ist ein kryptischer Regisseur, der dem Surrealismus verschrieben ist und mit eigenwilligen Werken wie Dune – Der Wüstenplanet, Der Elefantenmensch und Blue Velvet die Kino- und Filmgeschichte der westlichen Welt entscheidend prägte. Mark Frost hingegen wirkt wie jemand, der das konventionelle Fernsehen mit Serien wie “Polizeirevier Hill Street” zwar an seine Grenzen führte, jedoch eher durch die dramaturgisch gewöhnlichen Drehbüchern zu den Superheldenfilmen Fantastic Four (2005) und Fantastic Four: Rise of the Silver Surfer (2007) auffiel. Es scheint beinahe sichtbar, wie zwei dramaturgische Disziplinen in Twin Peaks miteinander streiten: Das aristotelische Drama (Frost) gegen den dekonstruktiven Surrealismus (Lynch). Doch auch wenn hier die Grenzen wahrscheinlich schwimmend sind, scheinen sich diese beiden Stile dennoch zu umarmen und eine merkwürdig schöne Einheit zu bilden.
Dualismen in Twin Peaks: Gut vs. Böse & Freude vs. Angst
Neben der Zahl Drei spielt auch die Zwei durch die vielen Gegensätze ein bedeutende Rolle in der Serie Twin Peaks. Das Gute und die Unschuldigen werden vom Bösen und den schuldbehafteten Tätern immer wieder aufs Neue herausgefordert. So scheint der frohgemute Protagonist Agent Cooper wie ein unzerstörbarer Schildwall gegen all das Leid, den Schmerz und die Angst, die wie eine Glaskuppel aus negativer Kraft über der Kleinstadt Twin Peaks liegen. Menschen hintergehen sich, wie es tausendfach in Soap-Serien geschieht, Intrigen werden gesponnen und eine alte, böse Kraft scheint in den Wäldern zu lauern. Der Detektiv als Protagonist der Kriminalhandlung ist die klassisch gute Figur, die Ordnung in die durcheinander geratene Handlung bringt. Agent Cooper verkörpert diese ermittelnde Hauptfigur auf solch überzogen positive Art und Weise, das er zu einer der markanstensten Figuren der Popkultur in 90ern wurde.

Traumsymbole und noch mehr Rätsel
Wer schon einmal probiert hat einen Traum zu deuten, kann sich vielleicht vorstellen, wie schwer es ist eine eindeutige Interpretation zu finden. Die Wahrung des Mysteriums verbirgt sich in Twin Peaks hinter surrealen Traumsequenzen in denen Agent Cooper kryptische Hinweise erlangt, die ihm dabei zu helfen scheinen, den Mordfall Laura Palmer aufzuklären. Ein tanzender Zwerg, der ein Arm ist. Ein aus dem Nichts auftauchender Riese, der mit sanfter Stimme seine Hilfe anbietet. Ein ebenso plötzliches erscheinendes Pferd, das für sich schon ein starkes Symbol in der Traumdeutung ist und zum Beispiel für Ohnmacht stehen könnte. Es ist davon auszugehen, dass Lynch und Frost sich der Mehrdeutigkeit ihrer Motive, Symbole und Bilder bewusst sind. Sie verwenden möglicherweise ein weißes Pferd gerade wegen seiner vielen Bedeutungen und nehmen damit den Zuschauer in die Verantwortung, die selten in anderen popkulturellen Formaten zu finden ist – die des Weiterdenkens.

Ein verzerrter Spiegel der aktuellen Medienlandschaft
In Twin Peaks werden zahlreiche Genres wie Krimi, Thriller, Psychodrama, Fantasy, Science-Fiction oder auch der Superhelden- und Kunstfilm bedient. Es wirkt beinahe so, als wenn Lynch und Frost in ihrer Serie allen anderen Genres einen surrealistischen Spiegel vorhalten und sie überspitzt karikieren. Die in den späten 2000ern aufgekommene Welle an Superheldenfilmen wird beispielsweise auf regelrecht platt wirkende Art und Weise aufgegriffen, wobei das Motiv übermenschlicher Kraft zum Einsatz kommt und mit einem zentralen Konflikt der gesamten Serie verbunden wird. Der Grad der Brutalität in Twin Peaks – insbesondere in der dritten Staffel – mag durch die Übertreibung drastischer wirken als bei Game of Thrones oder The Walking Dead. Denn während bei vielen anderen Serien, die Gewaltakte eher klare Ursachen und Gründe haben, sind diese bei Twin Peaks oftmals verschwommen oder bleiben sogar anhaltend verstörend im Verborgenen. Doch einer der größten Bedeutungen in Twin Peaks kommt wohl die Musik zu, die beinahe ganz für sich stehend, selbst zum wichtigen Handlungselement wird und damit sowohl die Grenzen der Genres als auch die der Medien sprengt.
Twin Peaks als Lynch’ letzter Vorhang?
Das ikonenhafte Bild Laura Palmers, der lächelnden Ballkönigin ihrer Highschool in Twin Peaks, erscheint. Leise erklingt die Musik von Komponist Angelo Badalamenti, dann ein tosender Wasserfall und schließlich rote Vorhänge sowie der für Twin Peaks typische Fußboden aus dem bizarren Zick-Zack-Muster in Schwarz und Weiß. Die Eingangssequenz der dritten Staffel Staffel Twin Peaks: The Return leitet eine Art Retrospektive auf das filmische Wirken von David Lynch ein. Viele seiner alten Werke wie Lost Highway, Mulholland Drive oder die Arbeit an seinen Musikvideos mit Moby, Interpol oder Nine Inch Nails erhalten in Twin Peaks: The Return unübersehbare Referenzen. Mit 72 Jahren ist Lynch bereits in einem hohen Alter und vielleicht war er sich bewusst, dass die dritte Staffel seine letzte große Bühne gewesen sein könnte. Ob es weitergeht, werden wir in vielleicht fünf Jahren erfahren, bis dahin darf sich auf die geschlossenen Fragen besonnen und an den weiterhin offenen gerätselt werden.
Themen: Mystery, Serie, Film, Lynch, Frost, Agent Cooper, Laura Palmer, Twin Peaks
